Drinnen und draußen

11.02.2009 von Jörg Schindler Reportage

Einleitung

Die Menschen, die auf der Asse arbeiten, sind verunsichert und sehen ihre Arbeit in ein falsches Licht gerückt. Mancher ihrer Kollegen, der früher im Berg war, fragt sich, ob ihn die Asse krank gemacht hat – ein Stimmungsbild.

Von: Jörg Schindler, Fotos: Frank Schinski


Die Reportage „Drinnen und Draußen“ erschien zuerst in der Asse Einblicke Nr. 2 / 2009, die vom Bundesamt für Strahlenschutz herausgegeben worden ist. Sie gibt einen Eindruck in die Stimmung in der Region kurz nach dem Betreiberwechsel Anfang des Jahres 2009.


Leukämie

Er zieht jetzt wieder ein Blatt aus seiner Mappe, es ist die Kopie eines Lieferscheins vom 31. Januar 1974. „Hier, sehen Sie!“, ruft Eckbert Duranowitsch und zeigt auf eine Spalte mit Strahlungswerten. 0,1 Curie stand da ursprünglich. Die Zahl aber ist durchgestrichen und durch eine 10,8 ersetzt worden. Noch später wurde sie dann offiziell auf 130 korrigiert. „Eigenartig, oder?“


Eckbert Duranowitsch hat alles in seiner Mappe gesammelt. Es sind Unterlagen aus vier Jahrzehnten, und es werden täglich mehr. Er hat sie gehortet unterm Dach seines holzvertäfelten Hauses am Rande von Wolfenbüttel, er glaubt, dass er sie brauchen kann. Er bereitet sich vor auf einen zähen Kampf. Es geht um nicht weniger als um sein Leben.

Im Januar 1999 teilten die Ärzte dem Maschinenschlosser mit, dass er Blutkrebs habe. „Die Arschkarte“, sagt Duranowitsch. Neun Jahre war es da her, dass er zuletzt im Atommülllager Asse gearbeitet hatte. Er sah keinen Zusammenhang. Bis zum Sommer 2008. Bis in der Presse erstmals Nachrichten auftauchten über einen kontaminierten „Laugensumpf“, der sich tief unten im Berg, vor einer Kammer mit strahlenden Fässern, gebildet hatte. Bis die Öffentlichkeit anfing, Fragen zu stellen und täglich seltsamere Antworten bekam. Bis ihn Zweifel beschlichen, ob in dem ehemaligen Salzbergwerk wirklich alles so sicher war, wie man es ihm drei Jahre lang sagte.

Eckbert Duranowitsch ist heute 46 Jahre alt, ein stämmiger Mann mit Halbglatze und durchdringendem Blick. Er glaubt nicht, dass er jemals wird beweisen können, woher seine Krankheit stammt. Aber er hat angefangen zu recherchieren – und festgestellt, dass er nicht der Einzige ist. Seinem Kumpel Hans-Peter Behnke, einem 59-Jährigen mit dunkler Brille und Meckifrisur, haben sie Anfang 2006 ein Karzinom aus der Rachenwand geschnitten. Ein anderer Ex-Kollege, Hans-Jürgen B., ist 2001 an Leukämie gestorben. „Da kommt man schon ins Nachdenken“, sagt Behnke.

Strahlung und Krebs

Die von radioaktiven Stoffen ausgehende ionisierende Strahlung kann Krebs und Leukämien auslösen. Dies konnte in einer Vielzahl von Untersuchungen von Personen gezeigt werden, die aus unterschiedlichen Gründen einer Strahlung ausgesetzt waren. Die bedeutendste Studie ist mit den Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki erstellt worden. Strahle­bedingte Krebs- und Leukämieerkrankungen treten erst Jahre oder Jahrzehnte nach einer Bestrahlung auf, das heißt, die Latenzzeit ist in der Regel recht lang. Diese strahlenbedingten Fälle lassen sich nicht von sogenannten spontanen Krebs- und Leukämieerkrankungen unterscheiden. Daher können sie nur durch statistische Methoden festgestellt werden.


„Es hieß immer, eine Wanderung auf dem Brocken sei gefährlicher, als hier unten zu arbeiten“

Die beiden Ex-Kumpel sitzen in letzter Zeit häufiger zusammen und überlegen, wie das damals war, Ende der 80er-­Jahre, als sie täglich gemeinsam in den Untergrund gingen. Der Atommüll, neben dem sie regelmäßig Konvergenz- und Neigungsmessungen durchführten, sei damals in der Belegschaft „kein Thema“ gewesen. War ja schon ein Vierteljahrhundert her, dass die letzten der 126.000 Fässer mit schwach- und mittelaktivem Nuklearschrott im Salz eingelagert worden waren. „Groß abgesperrt war da nix“, sagt Behnke. „Es hieß immer, eine Wanderung auf dem Brocken sei gefährlicher, als hier unten zu arbeiten“, sagt Duranowitsch. Auch die Lauge, die damals schon von außen eindrang in den Schacht, sei für niemanden ein Problem gewesen. Unten, auf der 750-Meter-Sohle, habe er mehrmals mit dem Schlauchboot durchfahren müssen, um zu Messpunkten zu gelangen. „Wird schon alles in Ordnung sein“, dachte er damals. Heute denkt er das nicht mehr. Heute will er rausfinden, was wirklich war. Er hat sich an die Politik gewandt, in Braunschweig und in Berlin, um Mitstreiter zu finden. Sein Name fiel kürzlich erstmals in einer Pressekonferenz der Regierung. Die Staatsanwaltschaft hat Vorermittlungen aufgenommen. „Ich will Licht ins Dunkel bringen“, sagt Eckbert Duranowitsch. Als sichtbaren Protest hat er, wie so viele in der Region, ein hölzernes gelbes A an seinem Haus angebracht. A wie Asse. A wie Anklage. Aber auch A wie Angst.


Es gibt keine Gefahr

Zwölf Kilometer weiter westlich und 658 Meter tiefer können sie die ganze Aufregung nicht recht verstehen. Hier unten, wo die Luft vor Salzstaub schwirrt und die Hitze allgegenwärtig ist, pumpt der fröhliche U-Boot-Fan Andreas Liedtke täglich Wasser aus einem Bergwerk, das der Öffentlichkeit jahrzehntelang als trocken und todsicher verkauft wurde. Es wird aufgefangen und gelagert in riesigen Metallwannen, die sie eigens hier unten zusammenschweißen. Seit Neuestem kann die Salzlösung wieder in ein anderes Bergwerk gebracht werden, weil sie nicht belastet ist. „Ich hab ein schönes Haus, eine Frau und Kinder, ich wäre ja blöd, wenn ich wo arbeiten würde, wo ich krank werde“, sagt Andreas Liedtke, der seit mehr als 25 Jahren in der Asse schafft, und genauso wenig wie Hartmut Reime, der hier unten die Aufsicht führt, sieht er einen Grund zur Beunruhigung. Sie wissen um die zwölf Kilogramm Plutonium, die hier irgendwo „eingepökelt“ wurden im Salz, sie haben gehört, dass es lückenhafte Inventarlisten geben soll, sie kennen die Skepsis, die oben an der Oberfläche herrscht. Sie ärgern sich darüber. „Man sollte mal anerkennen, dass die Leute hier gute Arbeit leisten, und ihnen nicht ständig eins über die Rübe geben“, sagt Reime, der seit der Wende täglich aus dem sachsen-anhaltinischen Halberstadt zum Schacht pendelt. Reime ist sich sicher: „Es gibt keine Gefahr.“


Auch wenn seit dem Betreiberwechsel einige neue Kontroll- und Überwachungsbereiche geschaffen wurden, auch wenn sie jetzt Gitter gestellt haben vor Kammern, in die noch vor Kurzem regelmäßig Schulklassen, Taubenzüchter und Schützenvereine rollten, auch wenn nun jeder, der in die Tiefe kommt, ein Dosimeter tragen muss: „Hier unten ist alles sicher“, sagt Reime. „Und Leukämie kann man doch überall kriegen.“ Alle Berichte über die Asse, die Nachrichten über einsturzgefährdete Deckengewölbe, Fässer, deren Inhalt niemand kennt, absaufende Sohlen, halten die Laugenabsauger der Asse für maßlos aufgebauscht. Nichts als Panikmache der Medien. Kürzlich hätten sie im Fernsehen wieder Bilder aus Morsleben gezeigt und behauptet, das sei Asse. Reime lacht. Das Einzige, was die Belegschaft mürbe mache, seien die Leute draußen, „die ständig fragen, was macht ihr hier eigentlich“.

„Die fühlen sich jetzt an der Ehre gepackt.“

Wie sehr die Atmosphäre zwischen denen hier drinnen und dem Rest da draußen gestört ist, hatte der Betriebsrat der Schachtanlage schon im vergangenen Herbst demonstriert. In einem offenen Brief beklagte das Gremium, die rund 250 Asse-Arbeiter seien in ihrem persönlichen Umfeld „zunehmenden Anfeindungen, wilden Beschimpfungen, Schuldzuweisungen“ ausgesetzt. Fragt man heute nach in Remlingen, Wittmar, Vahlberg und all den anderen hübschen Fachwerkdörfchen, die den lang gestreckten Höhenzug Asse umringen, hört man die immer gleichen Geschichten: Es geht um Bergmänner, die in den Läden nicht mehr bedient werden; um Kinder, die zu Hause bleiben, weil ihre Spielkameraden „verstrahlt sein könnten“; um gefallene Häuserpreise, für die jeder verantwortlich gemacht wird, der heute noch seinen Fuß in die Asse setzt, um dort zu arbeiten. Von einer „emotionalen Gefühlslage“ spricht Remlingens Pastor Stefan Lauer, die eine ganze Region erfasst habe und bei den Asse-Leuten eine „Wagenburg-Mentalität“ habe entstehen lassen. „Die fühlen sich jetzt an der Ehre gepackt.“

Die Verunsicherung ist gewaltig

Vielleicht trifft man deswegen im und um den Schacht heute niemanden, der zugeben würde, dass er durch die Ereignisse der letzten acht Monate ins Zweifeln gekommen ist. Wenn man denn überhaupt noch Menschen trifft, die reden wollen. Der Betriebsrat antwortet auf Anfragen erst gar nicht mehr. Andere sagen erst zu, dann unter merkwürdigen Vorwänden wieder ab. „Hier herrscht mehr Angst als Vaterlandsliebe“, sagt einer, der ungenannt bleiben will. Die Verunsicherung ist gewaltig: Keiner weiß, was die Übernahme der Schachtanlage durch das Bundesamt für Strahlenschutz für den Einzelnen bedeuten wird. Unklar ist, wie es tief im Berg weitergeht. Völlig offen, was noch alles ans Tageslicht kommt und wie Politik und Staatsanwaltschaft darauf reagieren werden. Womöglich ist es da wirklich besser zu schweigen, als das Falsche zu sagen.

„Die Decke wird uns schon nicht auf den Kopf fallen.“

Irgendwie aber wird es schon weitergehen, denken sie ganz unten, 658 Meter tief im Berg. „Muss ja“, sagt Nils Bialojahn, der gerade neben einem halbvollen Laugefass Pause macht. „Die Decke wird uns schon nicht auf den Kopf fallen.“ 2 Jahre ist er alt und hat erst vor einem halben Jahr seinen neuen Posten im Salzstaub bezogen. Seine Kollegen von der freiwilligen Feuerwehr frotzelten daraufhin: „Bist ja in der Asse, strahlste jetzt in der Nacht?“ Das fand Bialojahn lustig. Angst hat auch er nicht. „Warum sollte ich?“, sagt er und grinst. „In ein paar Monaten werd ich schon wieder Papa – also kann das mit der Asse so schlimm nicht sein.“

Der Autor

Jörg Schindler

Jörg Schindler ist Reporter der „Frankfurter Rundschau“

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