"Der permanente Verbesserungsprozess."

19.08.2020 Interview

Prof. Dr. Oliver Sträter leitet seit 2008 das Fachgebiet Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Kassel. Zuvor war er bei der europäischen Flugsicherheit in Brüssel, nachdem er bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit zur Beurteilung menschlicher und organisationaler Faktoren in der kerntechnischen Sicherheit promovierte und gutachterlich tätig war.

Kommunikation, Offenheit und Flexibilität schaffen Sicherheit

Im Interview mit dem Arbeits- und Organisationspsychologen Prof. Dr. Oliver Sträter. Er berät die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) beim Aufbau ihres Sicherheitsmanagementsystems.


Einblicke:

Im Standortauswahlgesetz ist der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) aufgegeben, eine »lernende Organisation« zu werden. Der Bereich Standortauswahl der BGE hat mit Ihrer Unterstützung damit begonnen, diese Anforderung in Form eines integrierten Sicherheitsmangementsystems umzusetzen. Was bedeutet das?

Prof. Dr. Sträter:

Diese Anforderung wird oft etwas missverstanden. Es wird angenommen, dass ein klassisches Sicherheitsmanagement mit starren Regeln ausreichend wäre. Die Erwartung, dass ein starres, prozessorientiertes Vorgehen Sicherheit schafft, stimmt mit der Realität oft nicht überein. Wir haben in der Standortauswahl nun die Möglichkeit, ein moderneres und in die BGE als Ganzes integriertes Sicherheitsmanagement aufzubauen. Das ist das Reizvolle an der ganzen Sache.


"Wir haben in der Standortauswahl nun die Möglichkeit, ein moderneres und in die BGE als Ganzes integriertes Sicherheitsmanagement aufzubauen."

Was macht das Verfahren modern?

Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass Sicherheit eigentlich ein negatives Produkt ist. Wir wissen, was wir nicht wollen. Wir wollen keine unangenehmen Überraschungen und keine schwerwiegenden
Ereignisse. Aber wie man das erreicht, ist eigentlich unklar. Das lässt sich auch nicht durch starre Systeme überwinden. Man muss mit dieser Unbestimmtheit leben. Dieses »Leben« ist das entscheidende. Dass man frühzeitig erkennt, wo die Probleme liegen, dass man sie auch frühzeitig identifiziert, kommunizieren kann und darf und sich dann als Organisation überlegt, was man damit macht. Das ist das wesentliche Element eines modernen Sicherheitsmanagements, dass es die Probleme frühzeitig entdeckt. Das frühzeitige Entdecken basiert auf der Kompetenz und den Möglichkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, solche Schwachpunkte oder kritische Prozesse zu erkennen und anzusprechen. Dazu gehört neben der Qualifikation der Belegschaft auch eine Fehlerkultur, die es erlaubt, diese Punkte in die Organisation hineinzutragen,
und dass die Organisation dann entsprechend darauf reagiert.



Das heißt: Kompetente und mutige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und eine Organisation, die das zulässt?

Ein modernes Sicherheitsmanagement fußt auf psychologischen Grundsätzen der Kommunikation, der Offenheit, der Flexibilität – als Schlagwort wird oft die »agile Organisation« genannt. Darüber hinaus braucht es aber auch klare Verantwortlichkeiten und klare Vorgehensweisen, wie man mit Problemen umgeht. Da ist eine gewisse Formalität dann wieder nötig. Aber es braucht beides.


"Dass man frühzeitig erkennt, wo die Probleme liegen, dass man sie auch frühzeitig identifiziert, kommunizieren kann und darf und sich dann als Organisation überlegt, was man damit macht."

Die Organisation muss also einen sicheren, verlässlichen und klaren Rahmen bieten, damit die schon angesprochenen kompetenten Belegschaften die richtigen Entscheidungen treffen können. Oder?

Es braucht Klarheit über die Szenarien, die möglichen Problemlösungen, auch darüber wo die eigene Verantwortlichkeit endet und die der nächsten Vorgesetzten oder der Gesamtorganisation beginnt. Das sollte festgelegt sein. Aber es braucht eben Flexibilität, um auch darüberhinausgehende Beobachtungen nicht wegzuschieben oder besondere Randbedingungen zu erkennen und zu kommunizieren. Am besten geht das miteinander. Wenn jemand merkt, dass er ein Problem in seinem Verantwortungsbereich nicht mehr lösen kann (oder ein Problem in einem anderen Verantwortungsbereich erkennt), dann muss diese Person das Vertrauen haben, ohne ein schlechtes Bild abzugeben, zu sagen: Hier haben wir Probleme. Die müssen wir als Organisation angehen. Dafür braucht es Mechanismen, die das Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen Teilen einer Organisation vernünftig austarieren.


Es braucht also sowohl eine Auswertung von Ereignissen oder Beinahe-Ereignissen auf einer durchaus formalen Ebene und zudem eine Unternehmenskultur, die Offenheit und das Ansprechen von Problemen zulässt?

Genau. Das sind zwei wesentliche Elemente. Das Lernen aus Erfahrung, also die genaue Auswertung von Ereignissen, aber auch von Erfolgen, gehört auf jeden Fall dazu. Wir gucken nicht nur auf die Probleme, sondern auch auf die Ereignisse, die sehr gut gelaufen sind. In einer offenen Organisationskultur lassen sich dann Dinge ansprechen, die schwieriger sind. Für den operativen Bereich gibt es Elemente, die sehr streng geregelt bleiben müssen. Unter Tage ist das essenziell, um die Sicherheit zu gewährleisten.


Damit beschäftigt sich nun auch die gesamte BGE, die aus drei verschiedenen Unternehmensteilen zusammengesetzt worden ist und dementsprechend drei verschiedene Sicherheitskulturen mitbringt, obwohl sie alle in der Vergangenheit mit radioaktiven Abfällen und mit Bergbau zu tun hatten. Wie gehen Sie vor?

Wir führen aktuell Interviews mit Personen, die im Sicherheitsmanagement wichtige Funktionen ausüben, um uns einen Überblick zu verschaffen. Es ist aber so, dass es für das Sicherheitsmanagement generell nicht einen Standard oder eine Lösung gibt, der allheilbringend und richtig wäre. Es gibt immer unterschiedliche Facetten, die Vor- und Nachteile haben. Das herauszuarbeiten ist aktuell das Ziel unserer Zusammenarbeit. Das Schlimmste für ein Sicherheitsmanagement ist es, wenn es als zusätzlicher Aufwand gesehen wird. Dann fängt es nicht an zu leben und wird damit unbeliebt und im schlechtesten Fall sogar nutzlos. Das Sicherheitsmanagement sollte also im Gegenteil die Arbeitsprozesse unterstützen und für die Sicherheitsthemen sensibilisieren.


Ist denn Sicherheit ein klar definierter Begriff? Oder ist Sicherheit eine Art bewegliches Ziel, das sich ständig verändert?

Sicherheit ist ein idealer Zustand, den man gerne erreichen möchte. Deshalb sind alle modernen Managementsysteme als iteratives Verfahren gedacht,  also eine Herangehensweise, die als Annäherung mit immer wieder ähnlichen Schritten als Suchverfahren im Dialog funktioniert. Das wird als Handlungsanweisung »Plan-Do-Check-Act« (plane, mache, überprüfe, handle) übersetzt, der kurz einfach nur noch PDCA-Zyklus genannt wird. Ein Kerngedanke ist der permanente Verbesserungsprozess. Aber man sagt auch: Wenn die anderen Arbeitsprozesse reibungslos laufen, die nicht direkt dem Sicherheitsmanagement zugeordnet werden können, dann ist das ebenso für das Sicherheitsmanagement ein Vorteil. Damit meine ich sämtliche Querschnittsfunktionen einer Organisation, Dienstleistungen wie Personalverwaltung, Einkauf,
Rechnungslegung und Controlling bis hin zur Kommunikation. Das zeichnet moderne Organisationen aus.


Klingt super.

Wichtig ist noch für das Sicherheitsmanagement, dass man es heute als integriertes Managementsystem versteht. Es gibt in jeder Organisation unterschiedliche Zielstellungen. Aus kritischen Ereignissen wissen wir, dass eben genau diese Integration nicht funktioniert hat, wenn es dazu kommt. Aktuelles Paradebeispiel ist die Boeing 737 max. Da sind ganz unterschiedliche Zielparameter an die Konstruktion des Flugzeugs angelegt worden: Es musste kerosin-sparender sein, es musste unter Zeitdruck konstruiert und behördlich abgenommen werden und auf Basis einer alten und ungeeigneten Konstruktion wurde dann versucht, moderne Triebwerke anzubauen. Daraus ist ein Flugzeug entstanden, das flugdynamisch riesige Probleme hat. Unterschiedliche Zielstellungen sind bei der Konstruktion nicht sinnvoll koordinert und miteinander integriert worden. Das ist ein typisches Beispiel, wie man es nicht machen sollte. Da wird sicherlich aus kerntechnischer Sicht aber auch aus bergbaulicher Sicht an die BGE die Anforderung gestellt, unterschiedliche Anforderungen in der Planungs- und Konzeptphase sinnvoll miteinander abzugleichen.


Braucht es dafür eine Zielhierarchie? Aktuell diskutiert die BGE über ihre Unternehmensziele.

Zumindest muss man ein gutes Verständnis davon haben, welche Ziele in der Organisation angesteuert werden. Es sind nicht unbedingt nur die Unternehmensziele übergeordnet, sondern es können auch die Teilziele der Bereiche sein, die mit ihrem Aufgabenspektrum gegenläufige Anforderungen in das System bringen können. Alle diese unterschiedlichen Anforderungen müssen in einen sinnvollen Austausch gebracht werden, damit Sicherheit als übergeordnetes Unternehmensziel erreichbar ist. Das Sicherheitsmanagement hat nicht den Anspruch, alle Zielkonflikte zu lösen. Aber ein Verfahren zu haben, wie diese Konflikte besprochen werden können. Das größte Problem für die Sicherheit ist immer, wenn einer dieser Aspekte untergebuttert oder vergessen wird. Das soll die Integration lösen. Es ist allerdings kein Kochbuch, in dem eine strenge Hierarchie die Lösung bieten kann. Auch eine Zielhierarchie wird eine gewisse Dynamik haben, mal muss das eine, mal ein anderes Ziel stärker verfolgt werden. Wichtig ist, dass die verschiedenen Parameter nicht unter den Tisch fallen.


Dagmar Dehmer

Das Gespräch führte Dagmar Dehmer. Sie leitet den Bereich Unternehmenskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der BGE.

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