Aus Gorleben gelernt

03.12.2018 von Annette Beutler Reportage

Gorleben im Herbst 2018. Das Holzkreuz im Wald ist verwittert. Hier, unter freiem Himmel, halten seit 30 Jahren jeden Sonntag Widerständler das „Gorlebener Gebet“ ab, eine Andacht gegen ein Atommülllager. Auch am vergangenen Sonntag. Seit mehr als einem Jahr gibt es einen sensibel ausgeklügelten Neustart bei der Endlagersuche. In Gorleben aber wird weiter gebetet. Auch die schlagkräftigen Bürgerinitiativen (externer Link), die seit 40 Jahren gegen den Plan eines Atommülllagers kämpfen, haben die Arbeit nicht eingestellt. Das Misstrauen der Anwohner ist riesig. Die Geschichte zeigt, warum.


Die Auswahl von Gorleben als Endlager-Standort beschäftigte von 2010 bis 2013 sogar einen Untersuchungsausschuss (PDF, 31,5 MB, externer Link), der sich mit den wissenschaftlichen und politischen Mängeln der Auswahl beschäftigte.

Aus Gorleben gelernt


Wie die Entscheidung von 1977, in Gorleben ein Endlager zu errichten, die Gesellschaft jahrzehntelang spaltete – und die neue Suche beeinflusst

Mitte der 1970er-Jahre beauftragt der Bund die Kernbrennstoff-Wiederaufbereitungs-Gesellschaft (KEWA), einen Ort für ein „nukleares Entsorgungszentrum“ zu suchen. In Niedersachsen findet die KEWA vier Standorte – Gorleben ist nicht dabei. Erst 1977 taucht der Name auf der Liste der möglichen Standorte auf, geologische Kriterien haben dabei nicht die Hauptrolle gespielt. Der damalige Ministerpräsident von Niedersachsen, Ernst Albrecht (CDU), favorisiert Gorleben: Der kleine Ort ist damals an drei Seiten von der Grenze zur DDR umgeben, der Landstrich ist dünn besiedelt – und liegt auf einem großen Salzstock.


Man umgeht die Bürgerbeteiligung, indem man statt Atomrecht das Bergrecht anwendet.

Auch die Bundesregierung stimmt zu und beschließt trotz heftiger Proteste vor Ort 1983 die unterirdische Erkundung des Salzstocks.

Dann werden juristische Tricks angewendet: Der Salzstock wird formal nach Berg-, nicht nach Atomrecht erkundet. So kann die Bürgerbeteiligung umgangen werden. Die Bürger befürchten, das „Atom-Klo“ Deutschlands zu werden. „Das Verfahren damals entsprach weder den Anforderungen der Wissenschaft noch den berechtigten Forderungen der Bürgerinnen und Bürger nach Transparenz“, sagt die Ex-Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) rückblickend.

Man umgeht die Bürgerbeteiligung, indem man statt Atomrecht das Bergrecht anwendet.


Tatsächlich gibt es damals wissenschaftliche Zweifel an Gorleben: Für Salz als Endlagergestein spricht, dass es den hochradioaktiven Müll fest einschließt. Dagegen spricht, dass es wasserlöslich ist.

Die ersten Castortransporte 1995 ins Zwischenlager Gorleben mobilisieren Tausende, jahrzehntelang kommt es zu Besetzungen und Blockaden, Aktivisten ketten sich an die Gleise. Die Gesellschaft ist gespalten: Für die einen spricht kein hartes Argument gegen Gorleben. Die anderen misstrauen der undurchsichtigen Entscheidung.

Menschen mit Schildern und Musikinstrumenten
© Gordon Welters/laif
Proteste gegen den Transport von Catoren mit radiaktioven Müll ins Atommülllager Gorleben.

Die Katastrophe von Fukushima macht viele zu Atomkraftgegnern

Doch dann geschieht 2011 die Atomkatastrophe in Fukushima. Die Bundesregierung veranlasst den endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft. Und sie merkt: Ohne gesellschaftlichen Konsens gibt es keine Endlager-Lösung. Das Standortauswahlgesetz, 2017 verabschiedet, soll alles anders machen: Es legt die Kriterien fest, die ein Endlager erfüllen soll, und die Gründe, aus denen Standorte von der Suche ausgeschlossen werden können. Die Suche soll noch mal bei null anfangen, mit einer „weißen Landkarte“. Neben Salz kommen nun auch Ton oder Granit als Endlager-Gestein in Betracht. Den Bürgern garantiert das Gesetz Transparenz und Teilhabe. Der wichtigste Maßstab bei der Auswahl soll die Sicherheit sein, nichts anderes. Nach der wechselvollen Geschichte des Standortes Gorleben signalisiert das Vorhaben: Wir haben verstanden!

Keine Region wird aus politischen Gründen ausgeschlossen, nur wissenschaftliche zählen. Das aber heißt: Gorleben bleibt ein theoretisch möglicher Standort. „De facto“, so der ehemalige niedersächsische Umweltminister Stefan Wenzel (Grüne), sei Gorleben nach den festgelegten Kriterien ausgeschlossen. Die Lagerfläche sei zu klein, das Deckgebirge nicht dick genug. Zudem fehle die Bürgerbeteiligung. Der Ort sei außen vor. Die Meinungen darüber sind bis heute geteilt. Und schriftlich haben sie das in Gorleben nicht. Bis 2031 soll mit dem neuen Suchverfahren ein Standort gefunden werden. Solange wird, das haben die Widerständler angekündigt, weitergebetet.


Anmerkung der Redaktion: Der Text stammt aus dem Jahr 2018. 2020 ist der Salzstock Gorleben-Rambow aus dem Standortauswahlverfahren für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle ausgeschieden. Die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) hat den Salzstock im Zwischenbericht Teilgebiete, der ersten groben Sichtung der geologischen Daten, nicht als Teilgebiet ausgewiesen. Damit ist er aus dem Spiel. Im September 2021 hat der Bund der BGE den Auftrag zur Schließung erteilt.


Die Autorin

Annette Beutler hat den Atomausstieg und das Thema Endlagerung lange als Parlamentskorrespondentin des „Focus“ begleitet. Sie hat das Bergwerk in Gorleben besucht – ebenso die Asse, den Ort, wo die Lagerung von Atommüll gründlich schiefgegangen ist. Heute arbeitet sie als freie Journalistin in Berlin.

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