Es ist viel schiefgelaufen

von Joachim Schüring Hintergrund

Es ist viel schiefgelaufen

Von Joachim Schüring

Nach jahrzehntelangem Streit um das geplante Endlager Gorleben gab es nur einen Weg aus der Sackgasse: den Neubeginn der Standortsuche. Ein Blick zurück – und nach vorn

 

Vor über 40 Jahren erschien in der Wochenzeitung DIE ZEIT ein Beitrag, der sich heute nur mit dem Geist jener Zeit erklären lässt. In der Ausgabe vom 18. Februar 1977 wurde Ernst Albrechts überraschende Entscheidung, in Gorleben ein nukleares Entsorgungszentrum zu errichten, nämlich wie folgt kommentiert: Wenn er, der niedersächsische Ministerpräsident, dabei bliebe, würde Bonn „wenig Freude an der Einlösung des Albrecht-Versprechens haben.“ Denn, so schrieb der Autor: „Dieses Stück Bundesrepublik ragt tief in die DDR hinein und könnte von einer kleinen Truppe im Handstreich genommen werden.“ Es war die Zeit des Kalten Krieges, und die sicherheitspolitischen Bedenken gab es wirklich: Ein Überfall aus Feindesland schien damals wahrscheinlicher als der Widerstand der eigenen Bevölkerung.


Doch der formierte sich schon bald. Und er war massiv. Die Anti-Atomkraft-Bewegung gewann nach Albrechts Ankündigung an Wucht. Ende März 1979 machten sich viele Kritiker*innen mit Traktoren vom Wendland auf den Weg nach Hannover. Vor rund 100.000 Demonstrant*innen rief ein Landwirt dem Ministerpräsidenten entgegen: „Mein lieber Herr Albrecht, wir wollen deinen Schiet nicht haben.“ Im Herbst desselben Jahres versammelten sich noch einmal so viele in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Es waren die bis dahin größten Anti-Atom-Demonstrationen der Republik. Im Frühjahr 1980 strömten schließlich mehrere Tausend Menschen in den Gorlebener Forst, besetzten das Gelände der „Tiefbohrstelle 1004“ und riefen dort die legendäre Freie Republik Wendland aus.

Heute, vier Jahrzehnte später, ist Gorleben ein Begriff für die gescheiterte Suche nach einem Endlager, das es bis heute für den hoch radioaktiven Atommüll nicht gibt. Hier nicht und auch sonst nirgendwo in Deutschland. Der Abfall lagert weiterhin in oberirdischen Zwischenlagern.


Gescheitert ist das Projekt aus zwei Gründen. Erstens gab es nach der Verkündung des Standortes durch den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht immer Zweifel an der wissenschaftlichen Begründung desselben. Zweitens war zuvor niemand gefragt worden. Die Politik hatte, blauäugigerweise wohl, vollendete Tatsachen geschaffen. Seither symbolisieren Bilder von angeketteten Demonstrant*innen und blockierten Castortransporten das Versagen des Staates und erschweren den Dialog bis in die Gegenwart. Es war wirklich viel schiefgelaufen.

Doch stets war klar: Von selbst löst sich das Problem nicht. Solange deutsche Atomkraftwerke Strom erzeugen, würden sich die Hallen der Zwischenlager füllen. Doch sollte es noch einmal viele Jahre dauern,
bis – vor allem im Lichte der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Frühjahr 2011 – endlich parteiübergreifend klar wurde, dass die Suche nach dem Endlagerstandort vollkommen neu beginnen musste. 2013 machten Bundestag und Bundesrat für diesen Neustart den Weg frei. Dabei gilt das Prinzip der „weißen Landkarte“: Alle Orte im Land sollten gleichberechtigt neu beurteilt werden, weshalb auch der umstrittene Salzstock Gorleben nicht ausgeschlossen wurde.


Vor allem sollte aus den beiden Kardinalfehlern von Gorleben eine Lehre gezogen werden. Erstens hatte die neuerliche Suche nach wissenschaftlichen Kriterien zu erfolgen. Zweitens setzten die Akteure jetzt endlich auf größtmögliche Transparenz – und legten die umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit in die Hände des 2014 gegründeten Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, kurz: BASE.

Es gibt sogar – und das gab es in Deutschland bisher bei keinem Großprojekt – ein „Nationales Begleitgremium“, ein, wie es auf seiner Website heißt, „unabhängiges, pluralistisch zusammengesetztes gesellschaftliches Gremium“, in dem sich alle Menschen repräsentiert sehen sollen. Die 18 Frauen und Männer begleiten den gesamten Prozess und achten als Vermittler*innen darauf, dass die Bürgerbeteiligung nicht zu kurz kommt.


Die Grafik zeigt die verschiedenen geologischen Voraussetzungen, die bei der Endlagersuche berücksichtigt werden.
© Emde Grafik
Die Suche nach dem Endlager für hoch radioaktive Abfälle wird vor allem von den geologischen Voraussetzungen bestimmt. Im weiteren Verfahren gibt es zudem planungswissenschaftliche Abwägungen.
Die Grafik zeigt die verschiedenen geologischen Voraussetzungen, die bei der Endlagersuche berücksichtigt werden.
© Emde Grafik

Die wissenschaftlichen Standards für die Suche nach dem Endlager stehen im 2017 überarbeiteten Standortauswahlgesetz. Ziel ist der Ausschluss ungeeigneter und die Ermittlung geeigneter Standorte durch die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE). Verfahren wie die dauerhafte Lagerung an der Erdoberfläche, die Entsorgung der Abfälle im Meer, arktischen Eis oder sogar im Weltall waren zuvor geprüft und verworfen worden. Das atomare Endlager muss, da sind sich die Expert*innen einig, unterirdisch angelegt werden – und zwar in Salz-, Ton- oder kristallinen Wirtsgesteinen. Diese Gesteine müssen jeweils Formationen bilden, die mindestens 300 Meter unter der Geländeoberfläche liegen, mindestens 100 Meter mächtig sowie hitzebeständig und wasserdicht sind (siehe Bild oben).

Die Festlegung auf diese drei Wirtsgesteine ergibt sich allein aus ihrer potenziellen Eignung als Endlager. Steinsalzlagerstätten etwa sind im Idealfall besonders standfest, sodass sich auch große Hohlräume
leicht und ohne größere Sicherungen herstellen lassen. Außerdem verhält sich Steinsalz unter hohem Druck eher plastisch, sodass die Gefahr der Rissbildung gering ist – das Gestein ist dann praktisch wasserdicht. So wie viele Tongesteine auch. Sie können sich ebenfalls plastisch verformen, aufgrund ihrer mineralischen Zusammensetzung binden Tonminerale zudem Schadstoffe, auch Radionuklide. Kristalline Gesteine wie Granit hingegen sind fest, hart und sehr stabil, weshalb aber auch die Bildung von Klüften wahrscheinlicher ist. Das weltweit erste, fast fertiggestellte Endlager für hoch radioaktive Abfälle auf der finnischen Ostseeinsel Olkiluoto wurde übrigens in einem dem Granit ähnlichen Gestein angelegt.


Doch erfüllt vor Ort natürlich nicht jede Salz-, Tonstein- oder Granitformation auch die Mindestanforderungen. Die Ende September präsentierte Landkarte wird daher vorerst nur die Regionen zeigen, in denen die potenziell geeigneten Wirtsgesteine vorkommen – und zwar in den geforderten Tiefen und Mächtigkeiten. Eine Aussage über den tatsächlich geeigneten Standort lässt sich aber noch nicht treffen.

Aussagekräftiger sind daher die nicht ausgewiesenen Gegenden. Diese Flächen bleiben weiß, weil es dort das Wirtsgestein gar nicht gibt oder sein Vorkommen zu klein ist. Oder weil die Expert*innen an der langfristigen Sicherheit zweifeln. Das sind etwa Regionen, in denen Bergbau betrieben wurde oder Störungszonen zu erwarten sind. Kurzum: In solchen Regionen ist der Bau eines Endlagers ausgeschlossen.

Aus den Fehlern von Gorleben musste eine Lehre gezogen werden

Gezielte geologische Erkundungen fanden bisher nicht statt. Die Karte basiert allein auf der Auswertung von Daten der geologischen Landesämter, die den Untergrund Deutschlands seit Jahrzehnten erforschen und kartieren. Erst wenn die Zahl der potenziellen Standortregionen im nächsten Schritt ein weiteres Mal reduziert wird, überprüfen Expert*innen auch vor Ort, ob die natürlichen Gegebenheiten die Hoffnungen erfüllen. 2031 schließlich soll die Entscheidung für das deutsche Endlager fallen, danach wird es noch einmal mindestens 20 Jahre dauern, bis es in Betrieb geht. Die Betonung liegt auf „mindestens“.


Wenn spätestens Ende 2022 Deutschlands letztes Atomkraftwerk vom Netz geht, werden in den 16 Zwischenlagerstandorten rund 10.200 Tonnen hoch radioaktive Abfallstoffe plus knapp 8.000 Kokillen verglaster Abfälle aus der Wiederaufarbeitung lagern. Für sie muss ein Wirtsgestein gefunden werden, in dem sich alles in allem ein Volumen von zwei bis drei Turnhallen lagern lässt. Und: Es darf kein Zweifel bestehen, dass dieses Endlager über einen Zeitraum von mindestens einer Million Jahren sicher ist.

„Eine Million Jahre“, das ist, wie Geolog*innen gerne sagen, „in der Erdgeschichte nur ein Wimpernschlag.“ Doch heißt das natürlich nicht, dass in einer Million Jahren nicht sehr viel passieren kann. Entlang tektonischer Bruchzonen kam und kommt es immer wieder zu Erdbeben – auch in Deutschland. Selbst Vulkanausbrüche sind in diesem Zeitraum zukünftig nicht ausgeschlossen. In der Eifel zeugen die Krater der Maare davon, die letzte Eruption erfolgte vor gerade einmal 11.000 Jahren.


Und, last but not least, gingen in der letzten Million Jahre fast ein Dutzend Eiszeiten über das Land hinweg. Die einige Hundert Meter mächtigen Eisschilde drangen von Norden kommend teils bis weit nach Norddeutschland vor. Trotz des von uns Menschen verursachten globalen Temperaturanstiegs ist auch in Zukunft mit weiteren Eiszeiten zu rechnen.

Die Regionen, in denen es solche geologischen Risiken gibt, sind gut bekannt. Sie werden im Verlauf der Standortsuche im Rahmen „vorläufiger Sicherheitsuntersuchungen“ abgeschätzt. Deshalb wird für das Endlager eine Gesteinsformation gesucht, die seit über 30 Millionen Jahren stabil geblieben ist – und für die Prognosen für die kommenden eine Million Jahre zuverlässig möglich sind.

Damit der hoch radioaktive Abfall, der seit Jahrzehnten in oberirdischen Zwischenlagern gesammelt wird, aber wirklich an einen langfristig sicheren Ort geschafft werden kann, hat höchste Priorität: die Beteiligung der Menschen. Denn völlig ohne Vorwarnung soll nie wieder ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle in eine Region kommen, „nicht so wie damals in Gorleben!“ Dieses Versprechen der ehemaligen Bundesumweltministerin Barbara Hendricks anlässlich des Neustarts vor drei Jahren gilt es nun zu halten.


Der Autor

Joachim Schüring

Der Autor ist Geologe und Wissenschaftsjournalist. Er leitet den Berliner Standort der ZEIT-Tochter Tempus.

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