„Die Zeit dehnt sich – und dann rast sie wieder“
Endlagersuche
20.11.2025 Interview
Ein Gespräch mit dem Neuropsychologen Marc Wittmann über subjektives Zeiterleben, digitale Beschleunigung und die emotionale Herausforderung langfristiger Verantwortung.
Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie wir Zeit erleben. Was ist Zeit eigentlich?
Das ist eine der schwierigsten Fragen überhaupt – für Philosophen wie für Physikerinnen. Als Psychologe habe ich einen pragmatischeren Zugang: Zeit ist der subjektive Verlauf unserer Erlebnisse. Das muss nicht mit der Uhrzeit übereinstimmen. Während die Uhr stetig tickt, kann die Zeit für uns rasen oder fast stillstehen. Warum das mal so und mal so ist, versuchen wir in der psychologischen Zeitforschung zu verstehen.
Was beeinflusst, ob wir Zeit als schnell oder langsam empfinden?
Vor allem unsere Aufmerksamkeit. Wenn wir in einer Tätigkeit aufgehen, vergeht die Zeit wie im Flug. Wenn uns langweilig ist oder wir auf etwas warten, dehnt sie sich subjektiv. Entscheidend ist dabei auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers – die sogenannte Interozeption. Unsere Herzschläge, der Atem, Hunger oder Durst liefern Signale, die im Gehirn aufgezeichnet werden. Das passiert in der Insula, einer zentralen Region für Körperwahrnehmung. Dieser Prozess hilft uns dabei, die Dauer von Zeiträumen einzuschätzen.

Und warum scheint die Zeit mit zunehmendem Alter schneller zu vergehen?
Zum Großteil liegt das daran, dass unser Leben routinierter wird. Wir machen weniger neue Erfahrungen – und dadurch speichern wir auch weniger ab. Als Kinder erleben wir ständig Neues, alles ist aufregend. Auch biologisch durchlaufen wir viele Veränderungen. Das verlängert unser subjektives Zeitempfinden. Mit den Jahren verlieren die Erlebnisse ihren Neuartigkeitscharakter – und die Zeit scheint immer schneller zu vergehen.
Sie beschäftigen sich auch mit der Frage, wie Menschen über lange Zeiträume hinweg denken können. Wie leicht fällt es uns, in die Zukunft zu planen?
Dinge, die erst in einigen Jahren passieren, wirken weniger greifbar als solche, die nächste Woche anstehen. Deswegen fällt es uns leichter, Vorsätze für die Zukunft zu fassen, solange die Umsetzung noch nicht sofort beginnt. Es gibt jedoch eine wichtige Erkenntnis: Werden Dinge emotionaler, rücken sie in unserem subjektiven Zeitempfinden näher an uns heran.
Gibt es denn eine natürliche Grenze, wie weit wir sinnvoll in die Zukunft denken können?
Absolute Grenzen gibt es nicht, aber kulturelle Rhythmen spielen eine große Rolle. Für viele von uns ist ein Jahr eine zentrale Zeiteinheit – da sind wir geprägt durch Schuljahre, Arbeitszyklen und letztlich durch die Jahreszeiten. Über ein Jahr hinauszudenken, wird schwieriger, weil uns häufig der emotionale Bezug fehlt. 30 Jahre in die Zukunft zu planen – etwa bei Fragen der Endlagerung –, ist daher eine immense kognitive und emotionale Herausforderung.
„Je intensiver Menschen digitale Medien nutzen, desto schneller vergeht für sie subjektiv die Zeit.“
Wie kann es trotzdem gelingen?
Auf individueller Ebene zeigen Studien: Wer sich in die Perspektive seines künftigen Ichs hineinversetzt, ist eher bereit, langfristig zu denken. „Sinn“ ist hier von zentraler Bedeutung. Sinn hilft dabei, den emotionalen Druck unmittelbaren Begehrens und Wünschens zu überwinden. Erkenne ich Sinn in meiner Zukunftsversion, schaffe ich es auch, gegenwärtige Opfer für wichtige künftige Ziele zu bringen, etwa Geld anzulegen oder regelmäßig Sport zu treiben.
Was spielt außerdem eine Rolle?
Zukunftsgerichtete Entscheidungen hängen immer auch von der Zeitwahrnehmung ab, also davon, wann das Ergebnis einer Entscheidung erwartet werden kann. „Zeitnah“ oder „recht bald“ sind im Allgemeinen wesentlich emotionaler als „später“ oder „irgendwann“.
Tun wir uns deshalb auch so schwer, nachhaltiger zu werden?
In der Tat. Zum einen liegen die drastischen Auswirkungen des Klimawandels noch in weiter Ferne, zum anderen scheint die Aufgabe so groß und langwierig, dass sie lieber auf die lange Bank geschoben oder stiefmütterlich angepackt wird.
Wie wirkt sich die Beschleunigung durch digitale Medien aus?
Je intensiver Menschen digitale Medien nutzen, desto schneller vergeht für sie subjektiv die Zeit. E-Mails, Nachrichten, Social Media, Kommunikation über Kontinente hinweg – alles passiert heute in Echtzeit. Diese Beschleunigung verändert unseren inneren Takt. Gleichzeitig beobachten wir: Wer besonders zukunftsorientiert lebt – also viele Termine plant, vorausdenkt, organisiert –, empfindet die Zeit als noch schneller. Wir sind dauernd auf der mentalen
Überholspur.
Steht die Alltagsbeschleunigung langfristigem Denken im Weg?
Das ist tatsächlich ein Paradox: Wir organisieren unsere Zeit sehr vorausschauend, denken aber oft nur bis zur nächsten Deadline oder bis zum nächsten Urlaub. Sehr langfristige Perspektiven – wie ökologische Verantwortung über Jahrzehnte – bleiben emotional oft zu abstrakt. Was in 50 oder 100 Jahren geschieht, betrifft uns nicht persönlich. Das macht es ja so schwer, heute unangenehme Entscheidungen zu treffen, um ein fernes Ziel zu erreichen.
Wie kann eine Gesellschaft also langfristige Aufgaben effektiv angehen?
Wenn ich das so genau wüsste! Grundsätzlich braucht es eine ausgewogene, achtsame Zeitorientierung. Bei großen gesellschaftlichen Aufgaben wie der Endlagersuche sollten wir noch stärker an unsere Kinder und Kindeskinder denken. So könnten wir das Thema mit der Portion Emotionalität versehen, die nötig ist, um es näher an uns heranzuholen und gleichzeitig in die Breite zu tragen. Das könnte dabei helfen, Verständnis und Engagement für so ein Jahrzehnteprojekt zu stärken.
„Sehr langfristige Perspektiven [...] bleiben emotional oft zu abstrakt.“