Endlager vor den Toren Hamburgs?

03.12.2018 von Bernd Kramer Reportage

Einleitung

In dem schleswig-holsteinischen Dorf Siek im Kreis Stormarn brach kürzlich Unruhe aus: Es gab Gerüchte, der Ort sei in der engeren Auswahl für ein Atommüllendlager. Kurze Geschichte einer unnötigen Aufregung

Von Bernd Kramer

Oh Schreck - die Geschichte einer kurzen Aufregung

Klaus Koch horchte auf, als er im vergangenen Jahr zufällig im Internet auf einen Artikel der Lokalpresse stieß. In Sterup, gut 150 Kilometer nördlich von Kochs Heimatort Siek, hatte der Verein der Naturfreunde zu einer Infoveranstaltung geladen. Die Frage war heikel: Wäre es möglich, dass dort ein Endlager für Atommüll entsteht? Ein vom Bundesumwelt-ministerium 1995 in Auftrag gegebenes Gutachten hätte potenzielle Standorte in Schleswig-Holstein eingegrenzt, darunter Sterup. Aber denkbar wäre demnach ebenso: Siek. Koch, früher bei Umweltverbänden tätig und inzwischen Rentner, bekam einen Schreck – und wollte es genau wissen.

2.400 Menschen leben in der Gemeinde Siek nahe Hamburg. Unter dem Ort verläuft in mehreren hundert Metern Tiefe eine Steinsalzschicht. Salzstöcke gelten als potenziell geeignete Endlagerorte, weil sie die Atomfässer gut umschließen. Aber auch Granit oder Ton kämen infrage. Das Gutachten von 1995, das die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) (externer Link) erarbeitete, hatte bereits die Eignung von Siek als Endlager erwogen. „Ich wusste bisher nicht einmal, dass es hier überhaupt einen Salzstock gibt“, sagt Koch, der seit 1989 im Ort lebt.


„Ich wusste bisher nicht einmal, dass es hier überhaupt einen Salzstock gibt.“

In Siek brach daraufhin eine kleine Lawine los. Koch erkundigte sich bei verschiedenen Behörden, beim Umweltministerium und bei der Kreisverwaltung – aber so richtig beruhigt habe er sich danach nicht gefühlt. Ein anderer Bürger aus dem Nachbarort nahm Kochs Anfrage zum Anlass, um in einer öffentlichen Sprechstunde im Kreistag nachzuhaken – „einfach um mich zu informieren“, wie er sagt. Bald berichtete auch die Sieker Lokalpresse. Manche Überschriften lasen sich dabei, als stünde der Bau einer Atomdeponie unmittelbar bevor: „Behörde prüft Standort für Atommüllendlager in Siek“, lautete eine Schlagzeile. Nur: Stimmt das? Und warum weiß niemand davon?

November beschloss die Sieker Gemeindevertretung, dass die Verwaltung den Gerüchten auf den Grund gehen soll. Die Entwarnung folgte schnell. Das Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit, kurz: BfE (Bezeichnung seit 1. Januar 2020: Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, BASE) schrieb dem Bauamt der Gemeinde im Januar, „dass derzeit in der Gemeinde Siek – wie in allen anderen Gemeinden der Bundesrepublik Deutschland auch – keine Erkundungsarbeiten im Rahmen der Standortauswahl für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle stattfinden.“

Lehre aus Gorleben: Ohne das Wissen der Bürger wird nichts erforscht

Aus ganz Deutschland werden gerade geologische Daten ausgewertet, erst danach sollen mögliche Standorte eingegrenzt werden. Das Auswahlgesetz sieht außerdem vor, dass die betroffenen Gemeinden und die Öffentlichkeit vor Ort eng einbezogen werden. Ohne das Wissen der Bürgerinnen und Bürger würde in Siek nichts erforscht – eine Lehre aus dem als intransparent kritisierten Verfahren um das Versuchsendlager Gorleben, das viel Vertrauen in der Bevölkerung zerstört hatte. Erst 2031 soll der Bundestag einen Standort festlegen. Ab 2050 könnte der Bau eines Endlagers beginnen – wo auch immer, das ist völlig offen.

Für Bürgermeister Andreas Bitzer ist die Sache damit fürs Erste erledigt. Im jetzigen Stadium sehe er keinen Handlungsbedarf für die Lokalpolitik. Dass tatsächlich eine Atomdeponie in Siek entstehen könnte, hält er für unwahrscheinlich. „Das Vorhandensein eines Salzstockes führt noch nicht dazu, dass wir in die nähere Auswahl kommen“, sagt Bitzer. Es gebe eine Reihe von Punkten zu berücksichtigen und abzuwägen, ehe man entscheiden kann, wo hochradioaktiver Abfall für Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende sicher vergraben werden kann. „Wir liegen nicht in einem menschenleeren Landstrich, sondern direkt vor den Toren Hamburgs. Ich glaube nicht, dass in unmittelbarer Nähe einer Millionenstadt ein Endlager entstehen wird.“


„Ich glaube nicht, dass in unmittelbarer Nähe einer Millionenstadt ein Endlager entstehen wird.“

Alles in Ordnung also? Klaus Koch ist mit dieser Aussage noch nicht zufrieden. „Ich hätte mir im Sinne vieler Anwohner gewünscht, dass sich Kreis und Gemeinde schon jetzt klar gegen ein Endlager bei uns aussprechen, so wie dies bereits andere Landkreise getan haben“, sagt der 67-Jährige. Im Mai lud Koch mit der Hamburger Anti-Atom-Initiative „Ausgestrahlt“ zu einer Informationsveranstaltung in Siek ein. Der Raum der Kirchengemeinde sei brechend voll gewesen, erzählt Koch, mehr als 100 Bürgerinnen und Bürger seien erschienen, einige hätten die Veranstalter sogar nach Hause schicken müssen. Neu Zugezogene seien gekommen, die sich Sorgen um den Wert ihrer Häuser ihres Hauses machten. Andere fragten bereits konkret, wie die Castorbehälter mit Atommüll überhaupt nach Siek angeliefert werden könnten. Über die Autobahn? Mit dem Zug? Mit einem Arbeitskreis will Klaus Koch das Thema nun im Auge behalten.

Andere Bürger nehmen die Endlagergerüchte inzwischen hingegen mit humorvoller Gelassenheit. So berichtet es zumindest Bürgermeister Bitzer. Bei einem Übungsabend der freiwilligen Feuerwehr im Ort sei er einmal im Scherz von einem jungen Mann von Mitte 30 angesprochen worden: Er habe keine Lust mehr auf das tägliche Pendeln zur Arbeit, sagte der Mann, und das mit dem Endlager klinge doch so, als könnte es einmal deutlich mehr gut bezahlte Jobs in Siek geben. Ob der Herr Bürgermeister da vielleicht ein paar nähere Informationen hätte, wo man sich bewerben könne?


Der Autor

Bernd Kramer

Bernd Kramer lebt als freier Journalist in Hamburg und schreibt unter anderem für die „Zeit“, die „taz“, „Spiegel Online“ und den „Freitag“. Bevor er mit diesem Text beauftragt wurde, hatte er von der Aufregung vor den Toren seiner Stadt gar nichts mitbekommen. Dass so nah an Hamburg ein Endlager entstehen könnte, kam ihm aber gleich eher abwegig vor.

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