Stück für Stück

06.03.2021 von Tim Schröder Hintergrund

Mit dem Abschalten des letzten deutschen Kernkraftwerks Ende 2022 endet die rund 60 Jahre dauernde Ära des Atomstroms in Deutschland – und beginnt eine neue: die des Rückbaus und der Endlagerung der schwach- und mittelradioaktiven Abfälle.


Schon der Anfang vom Ende eines Kernkraftwerks dauert mehrere Jahre. So lange müssen die Brennelemente nach der Stilllegung nämlich noch im Abklingbecken verbleiben – bis sie so weit abgekühlt sind, dass sie in Castoren gepackt und in Zwischenlagern verwahrt werden können. Sobald dies geschehen ist, gibt es in einem Kraftwerk keine hochradioaktiven Abfälle mehr. Ein Atomunfall ist nun rein physikalisch nicht mehr möglich. Jetzt kann die Phase des Rückbaus beginnen, die noch mehrere Jahrzehnte dauern wird. In dieser Zeit fallen nur noch schwach- und mittelradioaktive Abfälle an, deren Strahlungsintensität tausend- bis millionenfach geringer ist als die der hochradioaktiven Brennstäbe. Gleichwohl sind auch sie eine Gefahr für die Umwelt und müssen langfristig endgelagert werden – und zwar im Endlager Konrad, das voraussichtlich 2027 fertiggestellt ist. Bevor es so weit ist, muss der Koloss aus Stahl und Beton Stück für Stück zerlegt werden. Das Ganze heißt nicht Abriss, sondern Rückbau, weil Expert*innen jedes Bauteil, jede Leitung, jeden Quadratmeter Beton zunächst penibel auf etwaige Strahlung prüfen. Messen sie Kontaminationen – Verschmutzungen durch radioaktive Stoffe also –, reinigen Arbeiter*innen die Beton- oder Stahlteile mit Hochdruck oder fräsen die oberen Millimeter ab. Alle belasteten Stoffe werden sorgfältig gesammelt, sortiert und in Fässer gepackt. Diese kommen ihrerseits in stählerne Container, die mit Beton ausgegossen werden. Am Ende dringt so wenig Strahlung nach außen, dass sie per Bahn aber auch mit Lkw in die Zwischenlager transportiert werden können. An deren Heck findet sich dann auf einer orangefarbenen Gefahrentafel eine Gefahrgutnummer, die mit einer „7“ beginnt. Knapp 30 Kernkraftwerke müssen schließlich dem Erdboden gleichgemacht oder für neue Zwecke nutzbar gemacht werden. Auch wenn dabei die größte Menge an radioaktiven Abfällen für die Endlagerung in Konrad anfällt, ist ihr Anteil pro Kraftwerk winzig. „Beim Rückbau rechnen wir grob geschätzt mit rund 5000 Kubikmetern schwach- und mittel-radioaktivem Abfall“, sagt Kai Möller von der BGE, „das entspricht der Ladung von gerade einmal 200 Muldenkippern.“.


Weniger als die Hälfte der Abfälle stammt aus dem Rückbau


"Der Koloss aus Stahl und Beton wird Stück für Stück zerlegt"

Neben Beton und Stahl gehören dazu beispielsweise Werkzeuge, Schutzanzüge, Luft- und Wasserfilter. Der große Rest eines solchen Bauwerks ist hingegen vollkommen unbelastet und wird konventionell entsorgt oder recycelt: Der Metallschrott wird eingeschmolzen, die mächtigen Betonmauern werden zu Schotter zerkleinert, um beispielsweise im Straßenbau Wiederverwendung zu finden. Doch nicht alle schwach- und mittelradioaktiven Abfälle in den Zwischenlagern stammen aus dem Rückbau von Atomkraftwerken. Weitere Abfälle fallen in wissenschaftlichen Einrichtungen an, insbesondere in Forschungsreaktoren. Wissenschaftler*innen nutzen radioaktive Strahlung unter anderem, um Materialien und Oberflächen zu untersuchen. Dabei geht es beispielsweise um die Entwicklung neuer Werkstoffe. Schwach- und mittelradioaktive Abfälle fallen auch in der Industrie an, zum Beispiel bei Herstellern von Brennelementen, Messgeräten oder von radioaktiven Präparaten für die Medizin. Auch wenn ihr Anteil sehr gering ist, so sind die Abfälle der sogenannten Landessammelstellen dennoch erwähnenswert. Sie sind für Anwender radioaktiver Stoffe in der Industrie, in der Medizin sowie in Forschung und Lehre zuständig. Das können beispielsweise schulische Präparate für Experimente zur Veranschaulichung der Radioaktivität sein. Aber auch Privat-leute kommen hier ab und zu vorbei und geben alte Uhren mit Leuchtziffern aus radioaktiver Farbe ab oder längst ausgediente Rauchmelder, in denen noch das künstlich hergestellte Element Americium enthalten ist. Von der Uhr mit Radiumziffern bis zum kontaminierten Betonklotz aus dem Reaktorsockel: Expert*innen schätzen, dass die Gesamtmenge aller in den deutschen Zwischenlagern angefallenen schwach und mittelradioaktiven Abfälle mit dem Rückbau der Atomkraftwerke auf rund 300 000 Kubikmeter ansteigen wird – ein Volumen, für das das Endlager Konrad ausgelegt ist. Hinzu kommen womöglich noch weitere Abfälle, die bei der Uran-anreicherung anfallen, sowie die Abfälle, die aus dem Bergwerk Asse zurückgeholt werden sollen. Für diese zusätzlichen Abfälle muss eine neue Endlagerkapazität gesucht werden. Um eine Vorstellung von dem Gesamtvolumen von 300 000 Kubikmetern zu bekommen: Würde man diese Menge Abfall auf einem Fußballfeld lagern, ergäbe sich ein gut 40 Meter hoher Stapel – das entspricht der Höhe eines 15-stöckigen Hochhauses.


Der Autor

Tim Schröder ist Wissenschaftsjournalist mit einer Vorliebe für Themen aus den Bereichen Energie und Umwelt.

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